„Diktatur ist eine Macht mit geringer Kultur“

Von Anke Emmerling Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu Gast beim Eifel-Literatur-Festival – Autorin stellte sich den Fragen von Festivalleiter Dr. Josef Zierden

Dolmetscherin Ganna-Maria Braungardt (v.l.), Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und Festivalleiter Dr. Josef Zierden im Gespräch. Bild: Harald Tittel/ELF
Dolmetscherin Ganna-Maria Braungardt (v.l.), Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch und Festivalleiter Dr. Josef Zierden im Gespräch. Bild: Harald Tittel/ELF

Bitburg – Zum vierten Mal in seiner Geschichte hat das Eifel-Literatur-Festival seinen Gästen eine mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnete Persönlichkeit vorgestellt. Die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch gastierte mit ihrem Buch „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ im Haus Beda in Bitburg. Als gesellschaftspolitische Chronistin gewährte sie tiefe Einblicke in die Befindlichkeit der durch den sowjetischen Sozialismus geprägten Menschen und die aktuelle Lage in Russland und Weißrussland.

Die 69jährige Swetlana Alexijewitsch lebt in Minsk, hat Journalismus studiert und 1983 das erste Buch in ihrem später preisgekrönten Stil der Dokumentarprosa herausgebracht. Ihr Thema ist die Auseinandersetzung mit Politik, Gesellschaft und dem Leben im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Alexijewitsch spürt den Befindlichkeiten der vom „gigantischen Experiment“ des Sozialismus geprägten Menschen nach, indem sie quer durchs Land ihre Geschichten und Erzählungen sammelt, um sie zu Collagen zusammenzuführen. Es geht ihr darum, Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Platz finden. In ihrem Erstling waren es die von sowjetischen Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg, später die von Veteranen aus dem Afghanistan-Krieg oder Betroffenen der Katastrophe von Tschernobyl. Weil sie damit aus Sicht der Zensurbehörden die Ehre ihres Landes beschmutzte, verlor sie nicht nur zunächst ihre Arbeit als Korrespondentin, sondern musste sich auch mehrfach vor Gericht verantworten. International erntete sie jedoch Anerkennung für ihr Werk und ihre Haltung, sich trotz Repressalien auf die Suche nach anderen als den offiziell verordneten Wahrheiten zu machen. Sie erhielt unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Literatur-Nobelpreis.

as Publikum feierte die 69-jährige Schriftstellerin im Haus Beda in Bitburg. Bild: Harald Tittel/ELF
Das Publikum feierte die 69-jährige Schriftstellerin im Haus Beda in Bitburg. Bild: Harald Tittel/ELF

„Secondhand-Zeit“, das Buch, mit dem sie nach Bitburg gekommen ist, ging dem Nobelpreis voraus und gilt als ihr Opus Magnus. Zehn Jahre habe sie daran gearbeitet, erzählt sie. Es handelt vom Abschied aus der Sowjetzeit, davon, wie sich Menschen sich fühlen, die 70 Jahre lang zum „Homo Sovieticus“ geformt wurden und plötzlich den Zusammenbruch ihrer Welt erleben. „Wir sind 1991 alle auf der Straße gewesen und haben »Freiheit« gerufen, wussten aber eigentlich gar nicht, was das bedeutet“, erklärt die Autorin ihren rund 300 Gästen, unter denen auch einige Landsleute sind. Sie tritt an diesem Abend nicht zu einer klassischen Lesung an, sondern stellt sich mit Hilfe ihrer Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt den Fragen von Festivalleiter Dr. Josef Zierden. Das Konstrukt eines Podiumsgesprächs mit drei Personen und in zwei Sprachen fordert Konzentration. Doch die lohnt sich, denn der Dialog eröffnet vielseitige Einblicke. Über die Autorin selbst erfährt das Publikum, dass sie beim Bügeln von der Nachricht der Nobelpreiszuerkennung überrascht wurde und öffentlichen Ruhm nur schlecht erträgt, ihm aber immerhin verdankt, nun auch in ihrem von Präsident Lukaschenko autoritär regierten Land sprachfähig zu sein.

Die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erfüllte zahlreiche Signierwünsche. BIld: Harald Tittel/ELF
Die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erfüllte zahlreiche Signierwünsche. BIld: Harald Tittel/ELF

„Diktatur ist eine Macht mit geringer Kultur. Zu hoffen, dass diese Leute auf einen hören, ist ziemlich naiv. Aber ich habe jetzt mehr Chancen, Dinge zu sagen, die sonst keiner sagt.“ Alexijewitsch erklärt auch ihr Selbstverständnis, ihre Arbeitsweise und Intention. „Ich bin Journalistin, Schriftstellerin und Predigerin, die Grenzen sind fließend“, sagt sie. Sie stelle Fragen, die Journalisten so nicht stellen würden, weil es ihr um das Gefühl als verbindendes Element ihres Sujets gehe. „Mich interessiert der reale und der ewige Mensch. Man muss durch Alltagsschichten stoßen, um auf tiefere Schichten, das Ewige oder Metaphysische zu kommen“. So versuche sie die Zeit im Menschen zu fassen, das was die fast 100 Jahre des „grausamen Experiments“ Sozialismus in ihm hinterlassen hätten. Dazu gehörten der Traum vom großen Imperium, „das Stück Putin, das in jedem steckt“, die Unfähigkeit, Freiheit nicht als plötzlich anderen Zustand, sondern als langen Prozess zu begreifen und die Abhängigkeit vom Glauben an eine große Idee. Der Zusammenbruch des Sowjetreichs habe diesbezüglich vielen Menschen den Boden unter den Füßen weggezogen. Ein kleiner Text aus ihrem Buch, die letzten Worte eines Marshalls der Sowjetarmee vor seinem Selbstmord, belegt das eindrucksvoll. Doch Alexijewitschs Anliegen, das „Ewige“ im Menschen herauszufiltern, kommt am schönsten und auch versöhnlichsten in der letzten Geschichte ihres Werks heraus, die den poetischen Schlusspunkt des Abends bildet. Darin benennt eine Bäuerin, die weit weg von den Städten und vom politischen Geschehen lebt, das, was wirklich zählt, den elementaren Kreislauf des Lebens: aufwachsen, lieben, heiraten, alt werden, pflanzen, ernten und sich jedes Jahr wieder an den Blüten des Flieders freuen.

 

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