Autor Andreas Züll hat sich mit dem Schicksal eines Euskircheners beschäftigt, das sich als erhellendes Zeitdokument des Nazismus liest – NS-Opfer ging freiwillig zur SS-Sonderformation Dirlewanger
Erinnerungskultur ist vor allem harte Arbeit an und mit Zeitdokumenten. Und diese führt noch immer zu erstaunlichen Ergebnissen, wie jetzt einmal mehr eine Arbeit von Andreas Züll unter dem Titel „Wehrunwürdig. Eine biographische Skizze zur SS-Sonderformation Dirlewanger anhand des Beispiels von Carlhans Jung aus Euskirchen“ beweist. Züll hat darin die Lebensgeschichte eines Kuchenheimers recherchiert, die jedem Romanschriftsteller als an den Haaren herbeigezogen vorgeworfen würde. Unwillkürlich fragt man sich von Seite zu Seite mehr, wie eine solche aus lauter Brüchen und Widersprüchen bestehende vollständig disparate Biographie überhaupt möglich sein, ja mehr noch, wie jemand als Mensch mit ihr leben konnte.
Andreas Züll zeichnet durch ausgiebiges Quellenstudium das Leben eines Mannes nach, das keinesfalls von Anfang an dafür prädestiniert erschien, einmal als Mitglied einer Mörderbande zu enden. 1899 in Kuchenheim geboren, jenem Ort, in dem – Ironie des Schicksals – 1918 auch das spätere Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, Willi Graf, das Licht der Welt erblickte, besucht Carlhans Jung zunächst das Gymnasium in Euskirchen, wird jedoch wie viele seiner Altersgenossen aufgrund einer allüberall waltenden Kriegsbegeisterung noch vor dem Abitur als „Kriegsfreiwilliger“ in den Ersten Weltkrieg hineingetrieben, wo er als MG-Schütze in Flandern die Hölle des Grabenkriegs durchlebt. Mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse entlässt man ihn aus dem Krieg zurück ins Zivilleben, wo Jung trotz zahlreicher guter Stellen als Buchhalter, Bankbeamter und Geschäftsführer aber so recht kein Bein mehr an den Boden bekommt. Immer wieder sprechen seine Entlassungspapiere von gesundheitlichen Problemen, loben aber gleichzeitig seine „flotte und gewissenhafte Arbeit“ sowie seine Gewandtheit im Publikumsverkehr. Nur einmal erfährt man, dass ihn ein Nierenleiden quälte. Zwischen 1919 und 1934 wechselt er gleich 15 Mal den Job. Es spricht für Züll, dass er hier nicht psychologisiert und beispielsweise die Weltkriegserfahrungen Jungs für dessen spätere berufliche Rastlosigkeit verantwortlich macht, sondern sich nur streng an seine ermittelten Quellen hält.
Und die geben weiter zu denken: Denn Anfang 1932 heiratet Jung in Kassel Auguste Grünthal geb. Katzenstein, eine Frau aus jüdischer Familie, die einen siebenjährigen Sohn mit in die Ehe bringt. Die Ehe wird auf Betreiben Jungs aber schon im November 1934 wieder geschieden, doch keinesfalls aus aufkeimenden rassistischen Beweggründen, wie Züll nachweist, denn „rassische Gründe“ seien erst ab 1938 überhaupt als Scheidungsgrund zulässig gewesen. Jungs Frau und ihr Sohn, auch dies hat Züll recherchiert, werden Jahre später in Auschwitz ermordet.
Gerade in den ersten Jahren der beginnenden nationalsozialistischen Gewaltherrschaft scheint es Jung noch weitaus schwerer zu fallen, Fuß in einem geregelten Arbeitsleben zu fassen. 1934 verdingt er sich eine Zeit lang als Bauhilfsarbeiter, danach tritt er erst wieder im August 1935 in Erscheinung – und zwar als Insasse der Strafanstalt Kassel-Wehlheiden, in der er wegen Betrugs im Rückfall und Unterschlagungen zu drei Jahren und 20 Tagen Zellenhaft einsitzt. Doch es kommt noch schlimmer: Die Justiz des NS-Staats betrachtet Jung als Gewohnheitsverbrecher von dem Wiederholungsgefahr ausgeht. Das bringt ihm nicht nur den Stempel „wehrunwürdig“ in seinen Personalakten ein, sondern auch den Ausschluss aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Und Letzteres ist nicht nur ein Aktenvermerk, sondern bedeutet konkrete Absonderung von der Bevölkerung in Form von Lagerhaft. Im September 1939 wird Jung nach Buchenwald überstellt. Der Kleinkriminelle wird ein Opfer der nationalsozialistischen Justiz und ihrem Wahn, dass Kriminalität gewissermaßen genetisch bedingt ist, also einmal Betrüger, immer Betrüger.
Züll fand heraus, dass der heute bekannte Politikwissenschaftler Eugen Kogon nur elf Tage nach Jung in Buchenwald eintraf. Mit Kogon verfügt er daher über einen verlässlichen Zeitzeugen, der später über die Peinigungen und Demütigungen der KZ-Insassen durch das SS-Wachpersonal berichtet hat, so dass man dank Kogon eine Vorstellung von dem bekommt, was dem Straftäter Jung während seines Lageraufenthalts widerfahren sein könnte. Doch Jung wollte, so steht zu vermuten, auf keinen Fall ein Opfer bleiben, sondern sich im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda als guter Volksdeutscher beweisen und bewähren. Als dekoriertem Weltkriegssoldaten dürfte ihm darüber hinaus die Aussage „wehrunwürdig“ besonders stark belastet haben. Um wieder zur Volksgemeinschaft zu gehören, wechselt er daher 1943 aus dem Lager freiwillig als SS-Grenadier nach Weißrussland in die Sonderformation Dirlewanger, eine für ihre Gewaltexzesse bekannte SS-Terrorgruppe, die jenseits aller Regeln ihre eigene Kriegsführung im Osten praktizierte. Kopf dieses empathielosen und völlig entmenschlichten Sonderverbands, der durch Massenerschießungen und andere Grausamkeiten sowie kaum vorstellbare sexuelle Übergriffe von sich reden machte, war Oskar Dirlewanger, ein vorbestrafter Kinderschänder, Dieb, Sadist und Alkoholiker. Und hier in einer der gefürchtetsten und widerwärtigsten Tätergruppen des Nazismus vollzieht sich die denkwürdige Verwandlung des Carlhans Jung, eine Verwandlung vom Opfer zum Täter. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass er, der sich bewähren sollte, nur als Zuschauer den Gräueltaten beiwohnte. Doch lange währt dieses neue Täterleben nicht. Im Alter von nur 44 Jahren stirbt Jung Anfang 1944 „bei den schweren Kämpfen im Osten den Heldentod“, so heißt es in einer in Euskirchen erschienen Todesanzeige. Unwillkürlich malt man sich aus, wie sein Leben weitergegangen wäre, hätte Jung den Krieg überlebt.
Andreas Züll tastet mit großem Fingerspitzengefühl die Bruchstellen und Erschütterungen im Leben von Carlhans Jung ab und zeichnet dessen Lebensweg auf der Folie des historischen Geschehens nach. Das macht diese Arbeit besonders wertvoll, weil sie nicht von der Geschichte als einem überwiegend entindividualisierten prozessualen Geschehen handelt, sondern von einem einzelnen Zeitgenossen, an dessen Lebensweg das Historische exemplifiziert und so erfahrbar wird.
Aufgrund seiner Biografie kann man Jung sicherlich anfänglich keinerlei besondere Nähe zur Ideologie des Nazismus unterstellen. Was aber trieb ihn dann dazu, ein „Dirlewanger“ zu werden? Sehnte er sich aufgrund seiner Weltkriegserfahrung nur erneut nach Konformität, Kameradschaft und Freundschaft? Oder war es eine simple Entweder-Oder-Entscheidung, entweder weiterhin Lagerinsasse oder Kämpfer an der Ostfront? Die Fragen lassen sich so kaum beantworten, weil sie größtenteils an der historischen Gegenwart der Nazizeit vorbeizielen, deren zeitgenössisches Bewusstsein nur als Nebeneinander von Normalität und Anomalie (Arntzen) verstanden werden kann. Oder wie der deutsche Sprachphilosoph Bruno Liebrucks sagt: „Nur die Zeiten sind entsetzlich, die den Menschen aus seinem Bewusstsein heraussetzen.“ Dass die Zerstörung dieses Bewusstseins vor allem durch den pausenlosen zynischen, rassistischen und empathielosen Unsinn, ja durch fanatisches Gerede gelang, wie es als Dauerschleife über Presse und erstmals Funk und Film verbreitet wurde, dürfte einer der Hauptgründe für dieses Phänomen eines gespaltenen Bewusstseins sein, das es letztlich ermöglichte, Vernichtungslager mit der Pedanterie eines Verwaltungsbeamten zu führen.
Was macht Zülls Arbeit lesenswert? Der Autor verfügt über etwas, das in der wissenschaftlichen Literatur eher selten ist, nämlich über die Fähigkeit, seine kritischen Überlegungen und die aus ihr hergeleiteten Erkenntnisse allgemeinverständlich zu vermitteln ohne dabei ins Populärwissenschaftliche oder gar nur Vermutende abzugleiten. Er diskutiert den Fall „Jung“ anhand aktueller Forschungsliteratur und überprüft ihn an deren divergierenden Erklärungsmodellen, ordnet ihn also nicht nur historisch, sondern auch reflektorisch in eine größere Kontextualität ein. Zülls Arbeit ist daher keine primär lokalgeschichtliche Abhandlung, das regionale Interesse an ihr sollte zweitrangig sein. Man wünscht dem Buch stattdessen überregionale Beachtung. Es eignet sich nicht zuletzt auch für Leser, die ansonsten keine wissenschaftliche Literatur zum Nazismus lesen. Denn niemand wird hier durch eine übertrieben fachwissenschaftliche Diktion verschreckt. Man muss auch nicht tief im Thema drinstecken. Denn dort, wo der Autor wohl annahm, dass nicht jeder Leser denselben Wissensstand besitzt, stellt er selbst das nötige Hintergrundwissen zur Verfügung, so beispielsweise, wenn er die Rolle und Aufgabe der sogenannten Schutzstaffel näher erläutert. Dies macht das Buch auch für Nichtwissenschaftler interessant, die statt eines Klischee-Bilds vom SS-Mann, das sie aus Filmen und Fernsehsendungen adaptiert haben, einen tieferen Blick in den erschreckenden Abgrund aus „Brutalität und Romantik“ (Kogon) dieser speziellen Tätergruppe werfen möchten. Nicht zuletzt enthält der Band auch einige Abbildungen von Dokumenten und Fotos, die die Authentizität des Dargestellten verbürgen.
Eifeler Presse Agentur/epa
Andreas Züll: Wehrunwürdig. Eine biographische Skizze zur SS-Sonderformation Dirlewanger anhand des Beispiels von Carlhans Jung aus Euskirchen. Mit einem Vorwort von Horst Schuh. WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2025. 141. Seiten. 25 Euro. ISBN: 978-3-98940-082-5.