Buchrezension: Sarah Binzenbach: „Aller Tage Abend“

Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Dieser Frage geht die in Nettersheim-Pesch geborene junge Autorin Sarah Binzenbach in ihrem neuen Buch „Aller Tage Abend“ nach und zieht das Fazit: Es bleiben nur Geschichten. Paul ist gestorben, ein Mann, der ein bewegtes Leben hinter sich hatte. Und jetzt sitzen alle beim typischen Beerdigungskaffee in einer Dorfkneipe beieinander und sprechen über Paul. Da ist seine Frau Efi, Pauls Schwester Irene, sein bester Freund Karl, seine Tochter Silke und sein Enkelkind Anni. Jeder hat seine Erinnerung, jeder hat seine Geschichten und Vorstellungen von Paul. Zuweilen widersprechen sie sich, zuweilen scheinen sie schöngefärbt. Und da ist am Ende auch noch Paul selber, der sich in einem Nachlassbrief an die Beerdigungsgesellschaft wendet. Seine Sicht der Dinge scheint kaum jemand im Saal zu goutieren, es werden Stühle gerückt, die Gesellschaft bricht auseinander.

Sarah Binzenbachs Text kommt unaufdringlich daher, die Autorin hat ein Händchen für die leisen Töne. Die einzelnen Kapitel des Buches erzählen von Kinderschuhen, einem Osterlamm, aber dann auch von Verletzungen, Trunkenheit, Gewalt. In der scheinbar heilen Welt einer typischen Nachkriegsfamilie tun sich immer wieder Abgründe auf, leise, in Nebensätzen.

Erinnert Irene zunächst noch: „Paul hatte immer die besten Ideen, damals schon, als er noch klein war“, und wird er als trotzköpfiges Kind vorgestellt, dass auch schon mal die Polizei rief, weil sein Lieblingsschaf zu Ostern geschlachtet werden sollte, so neigt er doch, nachdem man ihm in jungen Jahren Gewalt antat, im Jugendalter selbst zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und wird als Erwachsener sogar „Eisenfaust“ genannt. Anders der Blick von Karl auf Paul: Der schätzt an seinem alten Freund, dass er sich stets Zeit nahm für die Probleme seiner Freunde, um ihnen sodann ein paar Ratschläge zu erteilen, auch wenn man diese nicht hören wollte. Ernüchternder das Resümee von Pauls Tochter: „Er hat viel getrunken, viel gespielt. Und er war ein Frauenheld.“

Sarah Binzenbach bei Women-On-Stage. Foto Maria Glatz
Sarah Binzenbach bei Women-On-Stage. Foto Maria Glatz

Efi, seine Frau, beschreibt ihn sogar als gänzlich unromantisch und gewissermaßen auch sprachlos. „Die Rouladen waren gut, sagte er noch, und, dass er mich liebe.“ – So viel zur Verlobung. Nur Enkeltochter Anni scheint eine komplett andere Erinnerung an ihren Opa zu haben als alle andren. Mit ihm habe sie sich immer in der Scheune versteckt, wo sie ihrem Großvater beim Malen zugesehen habe. Paul, ein Künstler? „Wir haben nie viel geredet, auch nicht, als ich älter wurde, aber wir haben irgendwann angefangen, zusammen zu malen.“ Malen, so sagt Anni, war Pauls Art, etwas zu erzählen.

Am Ende wissen auch die Leserinnen und Leser nicht, wer und wie Paul als Mensch wirklich war. Was von ihm übrigbleibt sind erinnerte Geschichten, aber eben Geschichten, die nicht selten der Intention des jeweiligen Erzählers folgen. „Erinnerungen, Einbildungen, alles dasselbe“, bemerkt Pauls Tochter recht treffend. Mehr als über Paul sprechen die Figuren daher vor allem über sich selbst, über ihre Wünsche und Enttäuschungen. Das, was Paul der Trauergesellschaft zu sagen hat, bleibt daher ausgespart. Es wäre ohnehin nur eine weitere Geschichte, eine weitere Perspektive, die der Wahrheit auch nicht näher kommt als alles, was bereits von diesem Leben gesagt wurde. Wer darin eine grundsätzliche Problematik unserer modernen Kommunikationsgesellschaft sehen möchte, nämlich die Schwierigkeit, bei all dem uns umgebenden Gerede noch zu entscheiden, was denn nun wahr ist, liegt bestimmt nicht falsch. Doch auch „Faktenfinder“ werden hier nicht weiterhelfen. Für die Literatur gilt jedoch, was auch über die Kunst im Buch gesagt wird, dass nur sie noch „etwas zu erzählen“ hat, und indem sie das Erzählte als Sprache und Sprachlichkeit reflektierbar macht, leistet sie, anders als das sprachbewusstlose Gerede, eben am Ende doch noch Wahrheitsgewinn.

Die Geschichte hätte sicherlich auch das Potenzial für ein etwas dickeres Buch gehabt. Mit 70 Seiten und acht sehr schön gestalteten Bildcollagen handelt es sich eher um ein schmales Bändchen, aber manchmal, so wie in diesem Fall, ist weniger ja auch bekanntlich mehr.

Eifeler Presse Agentur/epa

Sarah Binzenbach: Aller Tage Abend. Story.One. 2022. 78. Seiten. 14,50 Euro. ISBN: 978-3-7108-0759-6.

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