„Einige Vorurteile scheinen unausrottbar zu sein“

Immer mal wieder wird in den Medien behauptet, Beschäftigte in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung würden ausgebeutet. Wir fragten die Geschäftsführer der NE.W Nordeifel.Werkstätten, Georg Richerzhagen und Christoph Werner, wie sie zu diesem Vorwurf stehen.

Die Geschäftsführer der Nordeifel.Werkstätten, Georg Richerzhagen (links) und Christoph Werner (rechts), wehren sich gegen den Vorwurf aus der Politik, Beschäftigte würden in Werkstätten für Menschen mit Behinderung als „Billig-Jobber“ ausgenutzt. Bild: Michael Thalken/Eifeler Presse Agentur/epa
Die Geschäftsführer der Nordeifel.Werkstätten, Georg Richerzhagen (links) und Christoph Werner (rechts), wehren sich gegen den Vorwurf aus der Politik, Beschäftigte würden in Werkstätten für Menschen mit Behinderung als „Billig-Jobber“ ausgenutzt. Bild: Michael Thalken/Eifeler Presse Agentur/epa

Redaktion: Herr Richerzhagen, Sie sind seit fünf Jahren Geschäftsführer der Nordeifel.Werkstätten. In diesen fünf Jahren haben die NE.W einen weiteren großen Schritt in Richtung Inklusion und gesellschaftliche Anerkennung getan. Es sei nur erinnert an den Umzug des „Bügelprofis“ in die Euskirchener Georgstraße, wo seither mitten in der Stadt Vorurteile gegen Menschen mit Behinderung im wahrsten Sinne des Wortes in die Mangel genommen werden. Aber auch an den Wiederaufbau des bei der Flutkatstrophe komplett zerstörten Bad Münstereifeler Bistros „Cafésito“, an die Eröffnung eines weiteren „Cafésito“ in Euskirchen und nicht zuletzt an die Eröffnung des Inklusionsbetriebs „projekt.bike inklusiv“ in Zingsheim, einem Fahrradladen, in dem Menschen mit und ohne Behinderung Hand in Hand zusammen arbeiten. Allesamt starke Aktionen, um Menschen mit Behinderung in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Dazu kommen die unglaublich großen Anstrengungen, die die NE.W unternehmen, um diese Menschen wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen zu lassen. Hier sei nur das Qualifizierungs- und Bildungszentrum, das „QuBi.Eifel“, direkt am Mechernicher Bahnhof als Leuchtturmprojekt genannt, indem die Eingangs- und Berufsbildungsbereiche der Nordeifel.Werkstätten zentralisiert wurden. Dort werden nicht nur junge Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen intensiv und innovativ bei ihrem Berufsstart begleitet, sondern auch Menschen mit psychischen Erkrankungen dabei unterstützt, erneut Fuß im Arbeitsleben zu fassen. Alles in allem also eine imposante Bilanz. Dennoch wird in den Medien immer wieder behauptet, dass Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderung ausgebeutet werden. Wie sehr trifft Sie das?

Georg Richerzhagen: Einige Vorurteile scheinen unausrottbar zu sein. Dabei sind es stets dieselben Argumente, die angeführt werden, und obwohl man sie schon dutzendmal wiederlegt hat, kann man sie nicht aus der Welt schaffen.

Redaktion: Könnten Sie das konkretisieren?

Richerzhagen: Es geht fast immer um den gezahlten Stundenlohn, der in der Tat sehr niedrig ist. Und es wird behauptet, die Werkstätten verdienten sich so eine goldene Nase. Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass der Werkstattlohn gar nicht zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten dienen soll. Dazu dient vielmehr die Grundsicherung, oft noch aufgestockt durch Pflegegeld. Die Aufgabe einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung ist es auch nicht, Gewinne zu erwirtschaften, sondern Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten – also Teilhabe am Arbeitsleben und Rehabilitation zu ermöglichen. Oder aber, insofern sich dies als nicht möglich erweist, ihnen einen geschützten Raum zu bieten, in dem sie sich wohlfühlen.

Redaktion: Eventuelle Gewinne würden ja sicherlich auch durch die hohen Ausgaben für das aufwendige pädagogische und psycho-soziale Begleitprogramm wieder wettgemacht, oder?

Christoph Werner:  Ganz genau. Allein deshalb ist diese Argumentation hinfällig. Bei uns in den Nordeifel.Werkstätten arbeiten beispielsweise zusätzlich zu den 1100 Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigung über 350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich primär um die Belange der Beschäftigten kümmern und diese durch ein komplexes sozialpädagogisches Begleitprogramm im Arbeitsalltag und bei lebenspraktischen Belangen sowie aktiver Freizeitgestaltung unterstützen. Ginge es uns um Gewinnoptimierung, so würden wir diesen Aufwand wohl kaum betreiben. Wir sind kein herkömmlicher Betrieb, sondern ein umfassender Dienstleister für die Belange von Menschen mit Behinderung.

Redaktion: Und es ärgert Sie, dass sich das noch immer nicht herumgesprochen hat?

Richerzhagen: Es ist eine Sache, dass das Vorurteil vom ausgenutzten Werkstattmitarbeiter weiterhin in den Köpfen einiger Zeitgenossen grassiert, die vielleicht seit dreißig Jahren keine Werkstatt für Menschen mit Behinderung mehr von innen gesehen haben. Weitaus unverzeihlicher finde ich es allerdings, wenn dieses Vorurteil trotz besseren Wissens von Politikern bewusst gestreut wird, um die eigene politische Intention durchzusetzen. So behauptet neuerdings wieder einmal ein grüner Politiker und Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit in der Presse, dass „Sonderwelten, in denen Gehälter weit unter dem Mindestlohn gezahlt werden“, nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar seien. Und es wird gesagt, dass Menschen mit Behinderung „als Billig-Jobber ausgebeutet“ werden. Damit soll offensichtlich Stimmung gegen die Werkstätten gemacht werden.

Redaktion: Ich denke, Sie sprechen von Dennis Sonne. Wird also bewusst falsch argumentiert?

Werner: Ja, denn es wird zum einen verschwiegen, dass nicht die Werkstätten, sondern die Politik die Höhe der Entgelte bestimmt. Dass er als Politiker eine bessere Bezahlung in den Werkstätten „fordert“ ist dabei schon fast amüsant, schließlich sind die Grünen ja in der Regierungskoalition und könnten selbst versuchen, die Entgelte zu erhöhen. Doch stattdessen möchte man lieber „Alternativen zu Werkstätten stärken“, anstatt einen Vorstoß für höhere Werkstattlöhne zu unternehmen. So sehr wir die Forderung, die Inklusion voranzutreiben, auch unterstützen, so werden hier doch kurzsichtig eine ganze Reihe von konkreten Faktoren ausgeblendet.

Redaktion: Als da wären?

Richerzhagen: Zunächst muss man doch grundlegend die Frage stellen, ob eine Arbeit in den Werkstätten, die aus vielen Pausen und weitaus weniger Arbeitsstunden als in einem herkömmlichen Unternehmen besteht, überhaupt mit einem normalen Arbeitsverhältnis vergleichbar ist. Für einen Werkstattmitarbeiter beträgt die Nettoarbeitszeit im Schnitt 29,2 Wochenstunden. Darüber hinaus stehen nicht Arbeitsleistung und Effektivität im Vordergrund seiner Arbeit, sondern die rehabilitativen Ansprüche, die damit umgesetzt werden sollen. Ich möchte aber auch an die zahlreichen strukturellen Probleme erinnern, die einen Übergang von der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt erschweren. So ist vielen Mitarbeitern klar, dass ihre Rentenansprüche bei einem Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsplatz verlorengehen. Zudem erlischt die Zusage einer Erwerbsminderungs-Rente. Dies macht einen Übergang in den ersten Arbeitsmarkt für viele Beschäftigte nicht gerade attraktiv. Auch hier ist nicht die Werkstatt, sondern die Politik in der Pflicht, Abhilfe zu schaffen.

Redaktion: Mit anderen Worten, die Politik bemängelt hier Zustände, die sie zum Teil selbst zu verantworten hat? Sind denn überhaupt alle Menschen mit Beeinträchtigungen voll inklusionsfähig und daher ein Fall für den ersten Arbeitsmarkt?

Werner: Nein. Es gibt zahlreiche Menschen mit Behinderung, die den geschützten Raum einer Werkstatt unbedingt benötigen. Man erreicht keine vollständige Inklusion, wenn man die überwiegende Zahl der Werkstätten für Menschen mit Behinderung einfach schließt. Es kann auch nicht jeder schwimmen, wenn man in den Freibädern sämtliche Nichtschwimmerbecken abschafft.

Redaktion: Wie frei ist ein Mensch mit Behinderung denn in einer Werkstatt?

Richerzhagen: Eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung ist keine Pflichteinrichtung. Jeder kann jederzeit aus der Werkstatt austreten. Die Behauptung, die von den Kritikern der Werkstätten gern aufgestellt wird, man wolle die guten und gewinnbringenden Mitarbeiter nicht verlieren und halte sie daher fest, dürfte angesichts der Tatsache, dass Werkstätten eine sehr kostspielige Form von Selbststärkung, Qualifizierung und Bildung für die Beschäftigten betreiben, dass sie Jobcoaches unterhalten, ein enges Verhältnis zu den regionalen Betrieben pflegen und sogar wie die NE.W Inklusionsbetriebe aufbauen, um so vielen Menschen wie möglich den Schritt auf den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen, wohl hinfällig sein.

Redaktion: Nun gibt es ja auch immer mehr Menschen, die aus dem ersten Arbeitsmarkt kommen, dem Druck dort jedoch nicht mehr gewachsen sind und in einer Werkstatt Schutz suchen. Was bedeutet dies für die Kultur des ersten Arbeitsmarkts?

Richerzhagen: Das bedeutet, dass sich der Arbeitsmarkt in zwei Richtungen ändern muss. Firmen und Unternehmen müssen sich zum einen noch viel weiter öffnen und die großen Chancen erkennen, die Menschen mit Behinderung für das eigene Unternehmen mitbringen. Zum anderen muss der Markt sich auch hinsichtlich seiner Arbeitskultur ändern. Denn es ist ja zunächst ein wenig absurd, dass wir Menschen mit Beeinträchtigungen in einen Arbeitsmarkt integrieren sollen, der diese Menschen zum Teil selbst hervorbringt. Das trifft natürlich nicht auf die Allgemeinheit der Betriebe zu. Wir sind beispielsweise froh, bei uns im Kreis Euskirchen viele Unternehmen zu haben, die aufgeschlossen gegenüber Menschen mit Behinderung sind, die akzeptieren, dass für diese Menschen nicht derselbe Leistungsanspruch gelten kann und die dennoch begreifen, dass Menschen mit Behinderung durch ihre oft unkomplizierte, verlässliche und herzliche Art ein Zugewinn für das Betriebsklima sind.

Redaktion: Sie halten also niemanden als „Billig-Jobber“ in den Nordeifel.Werkstätten fest?

Werner (lacht): Nein, das ist wirklich Unfug. Im Gegenteil: Wir sind froh um jeden, der auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen kann und leisten, wie gesagt, für diese Menschen eine enorm aufwendige Begleitung. Andererseits sehen wir aber auch immer wieder, dass einige Beschäftigte an ihren eigenen Ansprüchen zerbrechen. Da wäre es herzlos, sie auf Teufel komm raus in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen.

Redaktion: Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind also keine profitorientierten Unternehmen, in denen Menschen ausgebeutet werden, sondern weit mehr der Motor der Inklusionsarbeit?

Richerzhagen:  So könnte man das sagen, ja. Sie abzuschaffen, wäre katastrophal. Eine gesetzliche Verordnung von Inklusion von jetzt auf gleich würde nicht nur die Menschen mit Behinderung überfordern, sondern auch den ersten Arbeitsmarkt. Wir brauchen die Werkstatt als Puffer und Vermittler, als Rückzugmöglichkeit, falls etwas auf dem ersten Arbeitsmarkt schiefläuft, und als Ausbildungs- und Lernplattform, damit bei einem Sprung in die Arbeitswelt eben nichts schiefläuft.

Redaktion: Wir danken für das Gespräch.

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